Ilmir sieht den anderen Drachen nach und schnieft. Eine Strömung kalten Wassers erfasst ihn und er muss niesen, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Zum dritten Mal in diesem Monat ist er so erkältet, dass er seinen siebzehn Geschwistern nicht auf ihre Entdeckungsreise durch die tieferen Schluchten folgen kann. Alleine schwimmt er zwischen den Korallen entlang, im Riff, wo das Wasser wärmer ist. Er kennt einen erholsamen Ort, ein hochgelegenes Schiffswrack, auf dessen Mast er der Wasseroberfläche nahe sein kann. Wenn er krank ist, lässt er sich gerne die Sonne auf die glänzenden Schuppen fallen. Ilmir schlängelt sich zwischen einer Riesenmuschel und einem zerklüfteten Felsen hindurch, bevor er über ein weites Sandfeld auf das gesunkene Schiff eines Entdeckers, die Antoinette, zusteuert. Unter ihm kreuzt ein Schwarm Sardellen seinen Weg und er kann seinen langgezogenen Schatten sehen. Ilmir betrachtet seinen Schatten nicht gerne, denn er erinnert ihn daran, dass er anders ist, als die anderen Drachen. Seine Geschwister sind wendig, kräftig und schillern in allen Farben des Regenbogens. Er hingegen ist lang und sehnig und besitzt nicht eine farbige Schuppe. Sein weißer Körper speichert kaum Wärme und er ist der einzige weit und breit, der sich ständig erkältet und eine Luftblase um den Kopf tragen muss, um sich nicht pausenlos am Wasser zu verschlucken.
Seinen Geschwistern ist das egal, sie lieben es, sich an dem langen Rumpf und den drahtigen Flügeln ihres großen, kleinen Bruders festzuhalten, damit er wie ein Geschoss mit ihnen durch die Strömung wirbeln kann. Ilmir liebt seine Familie, doch in Momenten wie diesem ist er einsam.
Das alte Schiffswrack knarzt und ächzt, als sich der große Drache um den Hauptmast herumwickelt, auf der Suche nach einer bequemen Position.
Langsam dringen die wärmenden Sonnenstrahlen zu ihm durch und Ilmir beobachtet die Fische. Sicher, auch sie sehen nicht alle gleich aus. Einige sind bunt gestreift und kurz. Andere sind glänzend grau und lang. Doch sehen sich die meisten Fische in einem Schwarm ähnlich.
Traurig seufzt der Drache und muss so heftig niesen, dass der Schiffsmast sich bedrohlich weit nach hinten biegt.
„Hier bist du also, mein Sohn.“
Sein Vater, ein grünblauer Drache mit gelben Augen und kräftigen Schwimmhäuten gesellt sich zu ihm, lässt sich jedoch lieber auf dem algenbewachsenen Deck des Schiffes nieder. Sein Gewicht hätte den maroden Mast sicherlich zum Einsturz gebracht.
„Ich bin erkältet, darum konnte ich den anderen nicht folgen“, erklärt Ilmir. Sein Vater schweigt und zusammen beobachten sie eine Delfinschule, die in weiter Entfernung durch das Wasser pflügt.
Auch sie sehen sich alle zum Verwechseln ähnlich.
„Weshalb bin ich nicht wie die anderen Drachen, Vater?“
Oft schon hat der weiße Drache diese Frage gestellt.
„Weil du kein Wasserdrache bist“, bekommt er zur Antwort. Das hat er freilich noch nie gehört.
Ilmir schnaubt beunruhigt und schlägt mit den großen, nutzlosen Flügeln.
„Kein Wasserdrache? Was bedeutet das?“
„Das wusste ich anfangs auch nicht. Du kamst an einem stürmischen Tag zu uns, als die Wellen hoch schlugen und die Strömung uns alle auseinandergetrieben hatte. Nach und nach habe ich meine Söhne und Töchter gesucht und sie wiedergefunden. Dann sah ich einen kleinen weißen Drachen, der langsam und reglos wie Treibgut zu Boden sank. Auch den habe ich mit in unsere schützende Höhle genommen, denn der Sturm hat noch Wochen angedauert.“
Sein Vater macht eine Pause und Ilmir niest laut und heftig.
„Ich bin also nicht dein Sohn?“, fragt er dann so leise, dass das Meer seine Worte beinah davon schwemmt.
„Von da an, warst du es. Und das wirst du auch sein, wenn du dich entscheiden solltest, das Wasser zu verlassen.“
Der große, blaugrüne Drache hat den Blick abgewandt und Ilmir fragt sich, was er sonst in dessen Augen gesehen hätte.
„Ich habe noch nie gehört, dass ein Drache das Wasser verlassen hat“, sagt er, noch immer mit leiser Stimme.
„Wir sind Wasserdrachen. Wir können es nicht. Aber du, mein Sohn, du bist ein besonderer Wasserdrache. Ich weiß, du kannst es. Und du bist jetzt alt genug.“
Ilmir ist sich da nicht so sicher. Mit seinen dreihundertachtundachtzig Jahren fühlt er sich in diesem Moment klein und hilflos und er will plötzlich nicht mehr hören, weshalb er anders ist.
Ein weiteres Niesen erschüttert ihn und er schwimmt los. Aufgewühlt schlängelt er sich dicht am Meeresgrund vorbei, wobei er Unmengen an Sand und Muscheln umherwirbelt, sowie eine Gruppe Krebse aufschreckt. Kein Wasserdrache?
Was ist er dann bloß? Ist er überhaupt ein Drache?
Ilmir muss es wissen. Er stößt sich mit seinen kurzen Hinterläufen vom sandigen Grund ab und schießt wie ein Raubfisch auf die Oberfläche zu. Nie zuvor hat er das getan. Nie zuvor ist ihm der Gedanke gekommen, das Wasser zu verlassen, denn das tun die anderen Drachen auch nicht.
Aber jetzt kann er die wenigen Sekunden kaum noch abwarten, während die wogende Wasseroberfläche näher und näher kommt.
Platsch!
Wie ein ausbrechender Geysir erhebt sich der weiße Drache aus dem Meer und schraubt sich in einer Spirale aus Gicht in die klare Seeluft hinauf.
Reflexartig spannt er die durchscheinenden Flügel, die ihm unter Wasser nie etwas genutzt haben, spürt, wie die Windböen diese aufblähen und ihm Auftrieb verleihen. Ilmir gibt einen langgezogenen Laut der Freude von sich, als er fühlt, wie natürlich sich sein langer Körper und die großen Flügel zum Dahinschweben eignen. Höher und höher fliegt er und gleitet geschmeidig in einen Berg aus aufgetürmten Wolken hinein, die er sonst nur aus dem Wasser erahnen konnte. Sonderbare Tiere ziehen hier ihre Kreise und mit Staunen stellt der Drache fest, dass auch sie Flügel besitzen und sich spielend leicht durch die Luft bewegen. Aufregung durchströmt ihn und er nähert sich ihnen.
Sind sie vielleicht ebenfalls Drachen?
Drachen, die so sind wie er?
Eines der gefiederten Geschöpfe entdeckt das sich nähernde, riesenhafte Wesen, klappt den gebogenen Schnabel auf und stößt in Panik einen heiseren Schrei aus. Ilmir gerät vor Schreck ins Trudeln, die gefiederten Tiere reißen ihre Flügel um und wenden sich in einer scharfen Linkskurve und lauthals schreiend von ihm ab. So schnell sie können flüchten sie vor dem weißen Drachen und dieser sieht ihnen enttäuscht nach. Scheinbar haben sie Angst vor ihm.
Nachdenklich spannt er die Flügel zu einem gemächlichen Sinkflug und schwebt aus den Wolken hinaus. Hier scheint die Sonne ungefiltert und der Drache genießt für einen Moment die Wärme, die so viel intensiver ist, als unter Wasser. Doch hier oben ist es leer.
Hier gibt es keine bunten Fische und Delfine.
Es gibt auch keine Schiffswracks zu erkunden. Das fehlt ihm.
Ilmir überlegt, wie er sich an dem endlos weiten Himmel und dem ebenso endlos weiten Meer orientieren soll, als er in den Lüften über ihm etwas entdeckt.
Ein leises Tuckern dringt an seine Ohren und er sieht ein gedrungenes Gebilde, das dunkle Dampfwolken ausspeit und sich mit ruckelnden Bewegungen vorwärts quält. Es kommt nicht im Geringsten so elegant voran wie er selbst oder das schreckhafte Federvieh.
Der Drache nähert sich dem Objekt dieses Mal mit mehr Vorsicht, auch weil es bedeutend größer ist, als im ersten Moment vermutet. Den Schatten dieses Gefährtes kennt er und das Geräusch hört man gelegentlich unter Wasser, wenn auch nur gedämpft.
Ilmir erkennt, dass sich kleine Gestalten auf dem Gefährt bewegen, sie laufen in Hast auf und ab. Das dampfende Gerät scheint ihnen als Transportmittel zu dienen, doch es ist in erhebliche Schieflage geraten. Der weiße Drache sieht, dass sich eine der metallisch glänzenden Schnüre gelöst hat, nun wild im Wind tanzt und die Gondel des Luftschiffes dadurch aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Ein lautes, plötzliches Niesen erschüttert den Drachen und lässt ihn ein Stück nach unten sacken.
Schreie ertönen am Himmel, die Luftreisenden haben ihn entdeckt. Doch sie können sich nicht abwenden, sie haben keine eigenen Flügel. Ilmir hat Mitleid mit ihnen und möchte sich für den Schrecken entschuldigen, den er ihnen bereitet hat. Doch je näher er kommt, desto schneller laufen sie an den goldenen Geländern entlang und desto lauter rufen sie.
Dann sieht er es.
Ein verblüffend kleines Exemplar eines Luftreisenden, das sich nur mit einer winzigen Gliedmaße an einer metallischen Schnur festklammert und aus vollem Hals schreit. Es hat keine Krallen, stellt der Drache fest. Es wird fallen.
Fallen. Hinab. Ins Meer.
Der Drache schnellt nach vorn, als sich die Fingerchen des Luftreisenden lösen und es fällt.
So tief. So weit. Hinab ins Meer.
Ilmir spürt diesen Schmerz tief in seinem eigenen Herzen und er schreit, als er denkt, er würde es nicht schaffen. Doch da sind sie. Die Finger, die sich an ihm festklammern.
Das Kind sitzt direkt auf seiner langgezogenen Schnauze und schaut mit aufgerissenen Augen in seine. Dunkle Haare tanzen um es herum, wie Seegras im Sturm und Ilmir kann sich nicht entsinnen, ob er zuvor schon etwas so winziges gesehen hat. Es wäre einfach verschwunden, im tiefen Meer.
Der Drache weiß, dass es nicht so viel Glück gehabt hätte, wie er an jenem stürmischen Tag. Als er die vertraute Berührung auf seinen glatten Schuppen spürt, wird ihm alles so klar, dass sein Inneres schmerzt.
Er setzt das kleine Exemplar in den ausgestreckten Armen eines größeren ab und stellt sich vor, wie ihn sein eigener Vater aufgefangen hat.
Sein Vater, der da unter der Wasseroberfläche ist. Wo seine Geschwister sind, die sich immer liebevoll an ihn geklammert haben. Wo es bunt ist und wo er zu Hause ist.
Ich bin froh, dass ich gefallen bin, denkt der besondere Wasserdrache, als er ein Runde um das Luftschiff dreht, um die lose Kette an ihren Platz zurückzuziehen.
Die Luftreisenden hüpfen auf und ab und rufen Dinge, die der Drache nicht verstehen kann. Ein Luftreisender bin ich auch, denkt er, während er dabei zusieht, wie sich die Lage des eigentümlichen Gefährtes in den Wolken wieder stabilisiert.
Dann dreht er von dem ruckelnden Luftschiff ab und holt zu einigen kraftvollen Flügelschlägen aus.
Er will heimkehren und hat nie eine so tiefe Dankbarkeit in sich gespürt, wie in diesem Moment. Die Sehnsucht nach seinem zu Hause ist ein so viel besseres Gefühl, als die Einsamkeit.
Die Einsamkeit, die ein Trugbild gewesen ist. Die nie wirklich existiert hat.
Vielleicht kann er nicht jeden Tag mit seinen Geschwistern unter Wasser mithalten. Doch dafür kann er ihnen jetzt unglaubliche Geschichten von gefiederten Wesen und glänzenden Gondeln erzählen. Ilmir hofft, dass sie ihm nicht böse sind.
Platsch!
Er taucht ein in die Welt, die ihm vertraut ist. So schnell er kann, saust er an den Korallen, den Fischschwärmen, den Riesenmuscheln und dem Wrack der Antoinette vorbei.
Sie warten auf ihn und stoßen vor Aufregungen schwallweise Luftblasen auf, die um ihn tanzen, als er zurückkehrt.
Sie haben geglaubt, er wäre gegangen. Der weiße Drache beruhigt sie und drückt sie mit seinen Flügeln an sich. Er ist vielleicht kein ganzer Wasserdrache, doch er ist ihr ganzer Bruder und wird immer zu ihnen zurückkommen.
Der weiße Drache niest laut und einer der kleineren Drachen wird in einem Strudel Luftblasen ein Stück nach oben gewirbelt. Er rudert begeistert mit seinen schillernden Schwimmhäuten und tut so, als würde er auf ein dampfendes Luftschiff zufliegen.
Sicher wird er sie einmal mit nach oben nehmen.
Ilmir sieht in die gelben Augen seines Vaters, des Drachen, der ihn aufgefangen hat.
„Danke, dass ich gehen konnte. Danke, dass ich wiederkommen durfte.“




© Leslie Meilinger 2019