Hexenmeister Fynx konnte seinen Augen kaum trauen, als er an diesem regnerischen Nachmittag die unwahrscheinlichste Gesellschaft bekam, die man sich in einem Hexenturm nur ausmalen konnte. Er saß in seinem Arbeitszimmer hinter dem Schreibtisch und starrte mit leicht geöffnetem Mund die Besucherin an, die schnellen Schrittes über den schwarzen Steinboden auf ihn zukam. Sie schwankte ein wenig, als wäre ihr schwindelig. 
Er konnte sich nicht ganz erklären, wie sie sich unbemerkt Zugang zu diesem Stockwerk verschafft hatte, und doch ihr bloßes Auftauchen war bei Weitem nicht das Seltsamste an ihr. 
Die junge Frau war in derbe Hosen gekleidet, mit einem beachtlichen Schwert und gleich einer Vielzahl an Dolchen bewaffnet, außerdem trug sie den blonden Zopf locker über die Schulter geworfen, wie eine Dämonenjägerin. Das war sie allerdings nicht, zumindest trug sie keine Brosche mit einem Kreuz an ihrem Oberteil. Genau genommen trug sie keine einzige Brosche, die dem Hexer auf die Schnelle etwas über die Fremde verraten hätten. Höchst ungebührlich. 
Ohne sie aus den Augen zu lassen erhob er sich aus seinem Lehnstuhl, während sie mit in die Seiten gestemmten Händen vor seinem Schreibtisch zum Stehen kam. 
»Mein Drache wurde entführt«, verkündete sie geradewegs heraus, ohne eine Verbeugung auch nur anzudeuten und kam zum Stehen. Fynx schob die Augenbrauen zusammen. Die junge Frau musste eine Halbelfe sein, denn sie war flügellos und ihre Ohren waren deutlich zu kurz, um einer Niustheen zu gehören. Doch wenn er genauer darüber nachdachte, dann hatte er nie zuvor solch seltsame runde Ohren gesehen, mal abgesehen von … 
»Mein Drache wurde entführt! Und ich weiß genau, dass sie hier ist. Irgendein vorwitziges, dürres Kerlchen tauchte während der Jagd bei ihr auf, kurz bevor sie sich vor meinen Augen aufgelöst haben. Streite bloß nicht ab, dass du etwas darüber weißt, ich bin den beiden auf direkter Spur gefolgt und hier gelandet. Also – wo versteckst du sie?«
Fynx wusste sich nicht zu helfen, er konnte die zierliche Frau bloß weiter anstarren, während sich in seinem Kopf die Gedanken überschlugen. Einen Moment lang hörte man nur die Regentropfen, die rhythmisch gegen die Außenwände des Turmes prasselten.
»Ein Drache?«, fragte er leise und überlegte, ob sie den Verstand verloren hatte. Ihre Ausstrahlung verwirrte ihn maßlos. Irgendetwas stimmte hier nicht, seine Kräfte prickelten aufgebracht über seine Handflächen. 
»Ihr Name ist Fecyre.« Sie sah ihm fest in die Augen, während sie dies sagte und machte dabei gar nicht den Eindruck einer Verrückten, im Gegenteil. Aus diesen hellen Augen sprach ein messerscharfer Verstand. Und noch mehr. Es sprach Menschlichkeit aus ihnen und das löste das Rätsel schlagartig. Die junge Frau war ein Mensch, eine Staubgeborene. Das erklärte die bedauernswert kurzen Ohren, warf ansonsten aber nur noch mehr Fragen auf. 
»Fecyre«, wiederholte Fynx langsam und nun zogen sich die Augenbrauen der Frau zweifelnd zusammen. Scheinbar hielt sie ihn für begriffsstutzig. 
»Genau. Ich kann sie im Moment nicht hören, aber ich weiß, dass sie hier irgendwo ist … Wo auch immer wir hier sind«, schob sie nach, verschränkte die Arme vor der Brust und erlaubte sich, kurz ihren Blick durch das Arbeitszimmer schweifen zu lassen.
Über die deckenhohen Bücherregale hinter Fynx, das Teleskop vor den glaslosen Fenstern und die gewölbte, farbenfrohe Decke, unter der einige aufgeklappte Folianten und Schriftrollen träge ihre Kreise zogen. Dann richteten sich die Augen wieder auf den Hexer und unterzogen ihn ebenfalls einer kritischen Musterung. Er bemerkte genau, wie sie seinen bestickten Umhang beinah abschätzig betrachtete, bevor ihr Blick misstrauisch über das Hexenmal in seinem Gesicht wanderte und schließlich an seinen Ohrspitzen hängen blieb. »Und wer auch immer du sein magst, wenn du mir nicht augenblicklich verrätst, wo Fecyre ist und wer dieser Bengel ist, der sie entführt hat, werde ich ungemütlich.«
Fynx nickte, als verstünde er, wovon sie sprach. »Ich bin Hexenmeister Fynx und du befindest dich augenblicklich im Hexenturm von Behemoth.« 
Der jungen Frau schien noch nicht klar geworden zu sein, dass sie sich außerhalb ihrer Welt befand. Oder sie verdrängte diesen Gedanken meisterhaft. 
»Behemoth …«, murmelte sie und schien zu überlegen, ob ihr der Name etwas sagte. »Das liegt nicht in Ostrinja, oder?«
»Nein, was auch immer das sein soll. Behemoth ist eine der neun großen Städte Gorraes, dem Land, in dem du dich gerade befindest. Unerlaubterweise, übrigens.« 
Fynx letzten Satz schien sie einfach auszublenden. Es fiel ihm schwer, aus ihrem Gesicht zu lesen, und er wunderte sich selbst ein wenig über die Ruhe, die er in dieser Situation aufbringen konnte. Das war vielleicht ein Vorteil des Alters. Normalerweise hätte er jeden unbefugten Eindringling in hohem Bogen nach draußen befördert. 
»Und du bist … was genau?«
»Hexenmeister.«
»Ah.« Sie nickte und es war unschwer zu erkennen, dass sie ihm nicht glaubte. Er könnte sie unter die Decke schweben und eine Runde mit den Büchern drehen lassen, aber das kam ihm unhöflich vor. Außerdem schien sie noch recht jung und er hatte gelernt, dass man mit jungen Leuten gezwungenermaßen Geduld haben musste. Er nutzte ihr Schweigen und unternahm einen Versuch, ein wenig Klarheit in diese Angelegenheit zu bringen.
»Dieser Bengel, von dem du da eben gesprochen hast … Wie genau würdest du ihn beschreiben?« 
»Wie man sich einen Bengel eben vorstellt. Zerzaustes Haar, dürre Knochen, mit hochgekrempelten Hosenbeinen und Ärmeln.«
Das klang leider ziemlich genau nach der Beschreibung seines Lehrlings Zane, den er seit einigen Stunden nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. An ihrer Geschichte schien also etwas Wahres dran zu sein. Beunruhigenderweise. 
»Wie ist dein Name?«, fragte der Hexer und versuchte, nun den Widerwillen in seiner Stimme zu unterdrücken. Was auch immer Zane angestellt hatte, Fynx durfte es nun wieder ausbaden und sich mit dieser haarsträubenden Situation herumschlagen. 
Die junge Frau hob das Kinn. »Ich bin Königin Trina von Ashturia.« 
Fynx hob die Augenbrauen und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte nach der Geschichte des entführten Drachens vieles erwartet. Aber nicht das. Es gab dort draußen also ein Land, das es seiner Königin gestattete in Hosen, Reitstiefeln und mit Dreck auf der Nasenspitze herumzulaufen. 
»Du …«, setzte er an und besann sich sogleich. Sie log nicht, sein Gespür hatte es ihm sofort bestätigt. Und auch wenn die folgenden Worte schon in seinem Kopf plump klangen, er musste sie aussprechen. »Ihr seht nicht aus wie eine Königin.« 
Trina machte eine wegwischende Handbewegung. »Das nehme ich mittlerweile als Kompliment, wenn ich mir andere Königinnen so ansehe. Und du kannst ruhig Trina zu mir sagen. Am liebsten wäre es mir übrigens, wenn wir den ganzen höflichen Kram hintanstellen und endlich meine Fecyre suchen gehen würden.«
Fynx nickte bedächtig und überlegte, wie er der jungen Königin klarmachen sollte, dass ihr Drache nicht hier war. Der Hexer hatte längst den ganzen Turm mit seinen hexerischen Fähigkeiten auf den Kopf gestellt. Von Zane fehlte allerdings ebenfalls jede Spur. 
»Ich fürchte, der Sachverhalt ist ein bisschen komplizierter.« 
Trinas Geduld schien langsam an ihre Grenzen zu kommen und sie kniff die Augen zusammen. 
»Ich sehe schon, du bist ein träger Bürokrat.« Wieder der abschätzige Blick. »Also entweder begleitest du mich auf der Suche nach Fecyre, oder ich stelle dieses Behemoth eigenständig auf den Kopf.« 
Der Hexer konnte sich ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen. Behemoth würde diese junge Frau hinter der ersten Straßenecke verspeisen und sorgfältig in ihre Einzelteile zerlegt wieder ausspucken. Sie allein losziehen zu lassen, wäre unverantwortlich. Andererseits versprach dieses Unterfangen sehr nervig zu werden … 
»Ich begleite dich«, sagte er schließlich und kam um den Schreibtisch herum. Er überragte sie um einiges, doch sie zeigte sich nicht im mindesten beeindruckt von seiner Gestalt. Jetzt konnte er allerdings den Hauch ihrer Nervosität wahrnehmen. Sie sorgte sich wirklich außerordentlich um diesen Drachen. 
»In Gorrae gibt es keine Drachen«, begann Fynx und machte eine Handbewegung in Richtung der offenstehenden Flügeltür, um sie aus dem Arbeitszimmer hinauszubegleiten. »Und ehrlich gesagt wusste ich nicht, dass es in irgendeiner Welt Drachen gibt. Aber ich gebe zu, ich habe sie mir nicht so schutzbedürftig und als einfache Entführungsopfer vorgestellt.« Der Hexer merkte schnell, dass Trina ihm nur bedingt zuhörte. Verständlich, denn das Innere des Hexenturmes konnte für Außenstehende ziemlich ablenkend wirken. Staunend legte sie ihren Kopf in den Nacken und bewunderte das Gewölbe über den Treppen, in denen ein schwebendes blaues Feuer brannte und kalte Funken auf sie hinabrieseln ließ. Fynx führte sie absichtlich nicht an der Sammlung ausgestopfter Exponate vorbei, die seine Meisterin angesammelt hatte. Obwohl Trina behauptet hatte, auf der Jagd gewesen zu sein und so wohl kaum ein Problem mit dem Anblick toter Tiere hatte. Allerdings wusste er nicht, ob es in ihrer Welt mehrköpfige Vögel, und Salamander von der Größe eines Ziegenbocks gab. Sie würde genug zu schauen haben, wenn er sie in das Studierzimmer brachte. 
»Was genau ist das hier für eine … Einrichtung?«, wollte Trina wissen, nachdem sie die ersten Treppenstufen nach unten genommen und sie einen Blick aus den schmalen Außenfenstern in das verregnete Behemoth hinuntergeworfen hatte. 
»Wir befinden uns im Hexenturm. Wie der Name schon sagt, beherbergt dieser einige der mächtigsten Hexen und Hexer des Landes. Außerdem ist der Turm eine Lehrstätte und ein Archiv.« 
»Hexenturm klingt nicht sehr einladend«, fand Trina und warf erneut einen Blick hinauf in das Gewölbe.
»Könnte dein Drache sich hier überhaupt fortbewegen?«, wollte Fynx wissen und überging ihre letzte Bemerkung. 
»Sie könnte es«, lautete die Antwort. 
»Ist sie gefährlich?« Der Hexer blieb vor dem Treppenabsatz stehen, der sie in das Studierzimmer führen würde. 
»Nein, prinzipiell nicht. Fecyre kann sich natürlich wehren, sie ist schließlich ein Drache, aber sie ist nicht bösartig, falls du das meinst. Allerdings weiß ich nicht, was passiert ist und wie es ihr im Moment geht.«
Fynx nickte, öffnete die Tür und der Königin blieben die Worte weg. Das Studierzimmer des Hexenturmes erstreckte sich über mehrere Ebenen und durfte gut und gerne das Fassungsvermögen einer durchschnittlichen Kathedrale haben. Bedächtig trat Trina an die Balustrade heran, von der sie auf die zahlreichen Tische, Sessel und vor allem die Bücherregale und künstlerischen Exponaten hinabsehen konnten.
»Ist das da hinten ein Wald?«, wollte sie wissen und deutete zwischen den beiden Regalen in der Mitte hindurch, die einen breiten Durchgang bis zum düsteren Ende des Raumes bildeten.
»Nur einzelne Bäume. Neun, um genau zu sein. Einer für jede der neun Präfekturen Gorraes.« 
Trina schwieg. Fynx musste nicht genau, ob sie das Eichkätzchen beobachtete, das in diesem Moment mit einer festgeschnallten Schriftrolle auf dem Rücken über den Marmorboden sprintete, oder ob sie völlig in Gedanken verloren war. Er sah jedenfalls den Moment gekommen, um es noch einmal mit der Wahrheit zu versuchen. 
»Ich weiß nicht, ob es in deinem Land Hexer gibt und du etwas über Magie weißt. Aber ich kann dir versichern, dass ich weiß, dass dein Drache nicht hier ist. Ohne jedes Gewölbe dieses Turmes abgesucht zu haben.
Die Königin warf ihm sogleich einen Blick aus verengten Augen zu. »Willst du mich eine Lügnerin nennen? Ich weiß genau, was ich gesehen habe.« Sie stockte selbst bei diesen Worten. »Zumindest ist Fecyre mit diesem Kerlchen verschwunden und als ich ihr gefolgt bin, bin ich hier gelandet.« 
»Ich glaube dir«, erwiderte Fynx geduldig, wenn auch innerlich mit den Augen rollend. Allein die Tatsache, dass sie hier vor ihm stand und Zane verschwunden war, zeigte den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte. Er vermutete, dass sie die Details falsch interpretiert haben könnte. Allerdings konnte der Hexer sich selbst noch nicht ganz erklären, was hier überhaupt vor sich ging. Ihm schwante, wie er der Sache auf die Spur kommen konnte, und es widerstrebte ihm. 
»Ehrlich gesagt …«, murmelte Trina und rieb sich ratlos mit dem Handrücken über die Stirn. »… weiß ich gar nicht, was ich hiervon halten soll. Dieser Raum …« Sie blinzelte und machte einen taumelnden Schritt zurück. Der Hexer zuckte nicht mit der Wimper, als die Königin ohne Vorwarnung umstürzte, wie ein gefällter Baum. Mit einem Fingerzeig verhinderte er, dass sie mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufschlug.
»Zu viel Hexerei in diesem Raum«, erklärte Fynx der ohnmächtigen Trina und wandte sich in Richtung Tür. Die Königin trieb wie ein nasser Sack hinter ihm her, immer eine Handbreit über den Stufen. So konnte er sich wenigsten in Ruhe Gedanken machen, was er mit dieser abstrusen Situation anfangen sollte, bis Trina wieder zu sich kam. 

Der Hexer beschloss, nicht in sein Arbeitszimmer zurückzukehren, sondern betrat das Teezimmer nebenan und ließ die Königin in einen der hohen Ohrensessel plumpsen. Eine dicke Staubwolke stieg auf und Trina rümpfte sogar in der Bewusstlosigkeit die Nase. Normalerweise gebrauchte Fynx dieses Zimmer nicht, sondern wurde seine wenigen Besucher schnellstmöglich wieder los. 
Mit einem Fingerzeig ließ er Teetassen, eine Kanne mit Wasser und getrocknete Malvenblätter herbeifliegen und brühte zwei Portionen Tee auf. Vielleicht würde sie ihm bei einer dampfenden Tasse ein wenig Gehör schenken. Wenn er nur wüsste, was er sagen wollte. 
Trina kam überraschend schnell wieder zu sich. Sie schlug erst das eine, dann das andere Auge auf, noch immer schief im Sessel angelehnt. Ihr Blick war jedoch schon jetzt vorwurfsvoll. 
Fynx hob beschwichtigend seine Hand und deutete auf die Teetasse, die er auf dem kreisrunden Tischchen neben ihr abgestellt hatte. 
»Lass mich dir einige Fragen stellen und ein bisschen etwas über die Hexerei erklären. Das würde vermutlich ein wenig Licht ins Dunkel bringen.« Fynx nippte an seinem eigenen Tee, ohne sie aus den Augen zu lassen und fuhr fort: »Es gibt in Gorrae orbitale Portale, die ein Reisen zwischen den Welten möglich machen. Jedoch kann man diese Funktion nicht beliebig anwenden und von deiner Welt habe ich nie zuvor gehört. Trotzdem muss etwas in diese Richtung möglich geworden sein, wie auch immer es dazu kam. Die einzig andere Möglichkeit liegt in der Hexerei. Ich brauche kein Portal, um eine solche Reise zu bewältigen, ebenso wenig ein anderer geübter Hexer oder Hexe. Da ich aber nicht weiß, ob es in deiner Welt eine derartige Magie überhaupt gibt-«
»Warte mal«, unterbrach ihn Trina und richtete sich in ihrem Sessel auf. Sie rieb sich über das Gesicht, warf ihren Zopf zurück und griff dann nach der Teetasse, um prüfend daran zu schnuppern. Vorsichtig nahm sie einen Schluck und sah dann den Hexer an. »Bitte, erspar mir diese ganzen Mutmaßungen. Hast du nun eine Idee, wo Fecyre sein könnte, oder nicht?« 
Fynx kniff unzufrieden den Mund zusammen, bevor er antwortete: »Ich glaube nicht, dass sie deine Welt überhaupt verlassen hat.« 
Trina bekam große Augen. 
»Aber, wie kam dann diese Verbindung zustande, von der du eben sprachst? Das macht keinen Sinn.«
»Ich vermute, dass du durch die Hexerei meines Lehrlings hierher gelangen konntest. Weil er den Übergang nicht anständig hinter sich versiegelt hat. Weil er verdammt noch mal nicht in der Lage ist, diese Art der Hexerei anzuwenden.« 
»Ah«, machte Trina und nickte langsam. Sie nahm noch einen Schluck Tee. Dann stellte sie die Tasse weg und sah den Hexer fragend an. »Das heißt, wir reisen nach Ashturia und ziehen deinem Lehrling die Ohren lang?« 
Fynx rang sich ein gequältes Lächeln ab. Und deinem vorwitzigen Drachen, falls der nicht so unschuldig sein sollte, wie du denkst.
»Ja, ungefähr das bedeutet es.« 
Die Königin erhob sich sofort aus ihrem Sessel und musste einen Ausfallschritt zur Seite machen. Sie blinzelte angestrengt. 
»Du scheinst die Magie vergleichsweise gut zu verkraften«, bemerkte der Hexer und zog ein Messer von seinem Gürtel. »Aber ich muss dich warnen. Eine orbitale Reise könnte dir ordentlich den Magen umdrehen.« 
Trina beäugte ihn misstrauisch und hatte ganz reflexartig an ihren eigenen Gürtel gegriffen, als Fynx das Messer gezogen hatte. »Was soll das denn werden? Nichts gegen einen kleinen Kampf, aber das scheint mir nicht der richtige Zeitpunkt.« 
»Ich verwende Blutmagie, um ein Portal zu öffnen«, erklärte Fynx und konzentrierte sich auf die Kräfte, die sich in seinen Fingerspitzen sammelten. Dann setzte er die Klinge abwechselnd an drei Fingerkuppen an. 
»Brauchst du auch mein Blut?«, wollte Trina wissen und klang dabei nicht so ablehnend, wie sie es sein müsste. 
»Tu mir einen Gefallen«, erwiderte Fynx und ließ einige Tropfen auf den Boden zwischen ihnen fallen. »Biete niemals einem Hexer dein Blut an, ja?« 
Er reichte ihr eine rot gesprenkelte Hand. Kurz zögerte sie, aber dann ergriff sie seine kühlen Finger und das Teezimmer löste sich um sie herum auf. 

Ihre Füße berührten den Boden des Sumpflandes und Trina atmete erleichtert die kühle Luft Ashturias ein. Ihr Magen rebellierte und ihr war schwindlig. Aber das war zuvor, als sie diese Welt verlassen hatte, rasch abgeklungen. Also zwang sie sich, den Blick auf einen Punkt gerichtet zu halten, und nahm sich einen Moment Zeit. Der Nebel lag dicht über dem Schwemmland. So wie sie Ashturia zurückgelassen hatte, ohne es zu wissen.
Andere Welten, dachte sie und hätte beinahe den Kopf geschüttelt. Doch das Dröhnen und Hämmern hatte noch nicht aufgehört. 
Der Hexer neben ihr trat in die seichte Pfütze und fluchte durch zusammengebissene Zähne. 
Langsam drehte Trina den Kopf und konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Missmutig hatte der große Mann die Schultern hochgezogen und beeilte sich, den Mantelkragen aufzuschlagen. Der Tumult in ihrem Körper beruhigte sich und sie wagte es, einen weiteren Schritt zu machen.
»Willkommen in Ashturia«, sagte sie und zog die Kapuze des Mantels locker über ihre Haare. 
»Es regnet«, knurrte der Hexer Trina an, als wäre sie daran schuld.
»Das soll schon mal vorkommen«, erwiderte sie. »Es hat doch auch geregnet in Gorrae.« Die andere Welt, von der sie nur einen winzigen Bruchteil gesehen hatte. Trina rieb sich über die Stirn und zwang den Aufruhr in ihren Gedanken nieder. Es galt jetzt, Fecyre zu finden. Egal, ob dieser kleine Hexer sie in seiner Gewalt hatte, oder sie ihm freiwillig gefolgt war. Dass das Drachenmädchen nicht auf Trinas Rufe reagierte, war äußerst besorgniserregend.
Fynx´ Antwort hatte sie nicht verstanden, aber so, wie er aussah, hatte er keinen Wert darauf gelegt, deutlich zu sprechen.
Der Regen nässte seine silberblonden Haare durch und er verzog das Gesicht mürrisch. Die spitzen Ohren irritierten Trina, sooft sie den hochgewachsenen Mann auch ansah. Aber der dunkle Fleck an seinem Kinn zog ihre Aufmerksamkeit erneut auf sich und sie bemühte sich, das Geburtsmal nicht anzustarren.
»Solltest du nicht deinen Drachen rufen?«, fragte er gereizt.
»Habe ich bereits«, gab sie zurück. »In meinen Gedanken kann ich sie sonst überall erreichen. Wolltest du nicht die Fährte deines Lehrlings aufspüren?« 
Fynx zog seine Hände aus den Manteltaschen und deutete dann in den Nebel.
»In diese Richtung.« Sorgsam kontrollierte er die Knöpfe an seinem Mantel und vergrub die Hände wieder in den Taschen.
An dem Schatten der Baumgruppe konnte sie sich orientieren.
»Bist du sicher?« Forschend sah sie den Hexer an, aber seine Körpersprache verriet noch vor der geknurrten Antwort, wie überzeugt er von der Richtigkeit der Richtungsangabe war.
»Wenn das so ist«, seufzte Trina. »Das bedeutet, wir müssen den festen Boden verlassen.« 
»Den was?« Fynx sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Wir stehen am Übergang des Sumpfes zu tieferem Gewässer. Aber wenn du sicher bist, dass dein Lehrling in diese Richtung zu finden ist, werde ich schwimmen, um Fecyre zu finden. Wie weit sie weg sind, kannst du mit deiner Hexerei wohl nicht herausfinden, hm?« Sie warf ihm einen Seitenblick zu, während sie ihre Stiefel auszog.
Wie vom Blitz getroffen stand Fynx da und starrte sie an.
»Du willst schwimmen? Gibt es keine andere Möglichkeit?« Nun gestikulierte er und wandte sich so schnell um, dass seine Haare unter dem Mantelkragen hervorkamen. 
»Nein, es gibt keine andere Möglichkeit.« Trina erschauderte, als sie den nackten Fuß abstellte und der kalte Matsch durch ihre Zehen quoll. Sie verfluchte, ohne ihr Pferd aufgebrochen zu sein. Aber der Drache hatte sie hierhergetragen und jetzt hatte Trina den Schlamassel.
»Fecyre?«, brüllte sie in ihren Gedanken erneut. Und erneut blieb die Antwort aus. 
Also biss Trina die Zähne zusammen und zog den zweiten Stiefel aus. Um ihre Besorgnis zu übertönen, seufzte sie laut. 
Der Hexer aus Gorrae betrachtete angewidert die Matschränder an seinen Stiefeln. Beinahe hatte sie Mitleid mit ihm. Aber Fynx hatte nicht auf seinen Schutzbefohlenen aufgepasst und das alles war also im Prinzip seine Schuld.
»Aber du kannst schwimmen?«, erkundigte sich Trina.
Fynx verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Schultern hoch. Sie konnte sehen, wie er sich das Wort abrang. »Nein.«
Überrascht und enttäuscht zugleich stellte Trina ihren Stiefel beiseite. »Wie jetzt?« In Ashturia lernte jeder bereits als Kleinkind schwimmen. »So überhaupt gar nicht?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Wie kommts?«, fragte sie nach.
Zuerst seufzte er, dann antwortete Fynx. »In Gorrae sind die Gewässer nicht sicher genug, um darin zu schwimmen. Jederzeit kann dich ein Dämon packen, und dann ist es um dich geschehen.« 
»Dann müssen wir uns etwas Anderes überlegen. Ich kann dich aber auf jeden Fall beruhigen. So etwas wie Dämonen gibt es in Ashturia nicht.« Aufmerksam prägte sie sich die Sumpflandschaft ein und warf einen Seitenblick auf die transparent schimmernden Flügel am Rücken des Hexers. »Und Fliegen kannst du wohl auch nicht?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Das musste wohl als Antwort genügen, denn mehr kam nicht von dem Hexer. Also zuckte Trina mit den Schultern.
»Gib mir bitte noch einmal die Richtung, in der du den Jungen vermutest. So genau wie möglich.«
Der Hexer streckte den Arm zielsicher aus. Trina machte einen Schritt zur Seite und stellte sich direkt vor ihn hin, den Blick abschätzend auf das Sumpfgebiet gerichtet. »Gelingt es dir, die Entfernung einzuschätzen?«, fragte sie nach.
Fynx antwortete verhältnismäßig freundlich: »Leider nicht. So kann ich auch nicht orbital direkt zu ihnen reisen. Zanes Hexerei scheint die beiden auf gewisse Weise zu verbergen. Vielleicht kannst du auch deswegen deinen Drachen nicht hören.«
»Hmhm«, machte Trina. »Dann müssen wir durch den Sumpf. Das dauert wesentlich länger.« Sie war alles andere als begeistert. »Lass uns aufbrechen. Meine Sorge wird immer größer.« Das war untertrieben. Sie hatte schon so oft nach ihrer Freundin gerufen ohne Antwort zu erhalten. Nur, als sie befürchtet hatte, Fecyre sei ermordet worden, hatte sie mehr Angst um sie gehabt.
Das Vorankommen war mühsam. Zwar wählte Trina den trockensten Weg, aber immer wieder rutschten sie auf dem büscheligen Gras ab und standen in knietiefem Matsch. Endlich erreichten sie eine Landzunge, die festeren Untergrund aufwies. Nach einem Blick auf den wortkargen Hexer entschied Trina, das Gelände zu nutzen, und lief los. 
Fynx hielt das Tempo und er fluchte nicht mehr. Als sie sicher war, dass er folgen konnte, fixierte Trina ihr Ziel. 
Dort, in den Felsen waren Höhlen. Und sie hoffte, Fecyre und den Zauberlehrling zu finden.
Dass man so viel Abscheu in einen Blick legen konnte, hatte Trina nicht geglaubt. Aber der Hexer aus Gorrae stand wie ein störrischer Esel am Rand des breiten Kanals und starrte das langsam fließende Gewässer an.
»Es ist wirklich nicht tief«, sagte sie und hob ihre Waffen hoch über den Kopf. »Siehst du?« Zum Beweis hielt sie den Atem an und wartete, bis ihre Zehenspitzen den Grund berührten. »Du musst nicht schwimmen können. Du bist ja größer als ich, das Wasser geht dir wahrscheinlich nur bis zum Kinn.« Mit drei ausholenden Schwimmzügen erreichte sie das andere Ufer und schmiss ihre Waffen an Land. »Das war die tiefste Stelle. Hier kann ich ganz bequem stehen.« Fynx schüttelte wieder den Kopf.
»Nein. Ganz sicher nicht. Und wenn du dich auf den Kopf stellst, ich werde nicht ins Wasser gehen.« Sein Ton verriet, dass er sich nicht umstimmen lassen würde.
»Es gibt keine Dämonen hier, ganz sicher nicht. Vertrau mir«, sagte sie und kehrte an die Uferseite zurück, an der er wie festgewachsen stand. Der Hexer war erwachsen, führte sich aber auf, wie ein trotziges Kind. »Soll ich dich huckepack nehmen?«, fragte sie und sah zu ihm auf. Fynx rollte mit den Augen und atmete gepresst aus, bevor er die Augen schloss. Trina hatte vermutet, dass er eine Möglichkeit suchte, seinen Stolz beiseitezuschieben. Als er unvermittelt verschwand, war sie verdutzt.
»Wenigstens hat es aufgehört, zu regnen«, hörte sie seine Stimme hinter sich. Der Hexer stand auf der anderen Seite des Kanals und richtete den Mantelkragen. 
»Der Nebel wird bald aufreißen«, sagte sie während der wenigen Schwimmzüge, kletterte an Land und wrang ihren Zopf aus.
Nickend trat Fynx gute zehn Schritte von ihr weg. 
Interessiert beobachtete Trina, wie der Mann mit seinen Händen gestikulierte und die Lippen lautlos bewegte. Zuerst passierte nichts. Doch dann dampfte der Mantel plötzlich und sie atmete überrascht ein. Fynx zog die Augenbrauen angestrengt zusammen und gleichzeitig wirkten die Bewegungen seiner Hände verkrampft. Als die Ader auf seiner Stirn hervortrat, kam Trina auf die Füße. Irgendetwas lief nicht so, wie es sollte.
Tatsächlich lag Brandgeruch in der Luft und als Trina die Augen zusammenkniff, konnte sie schwarze Ränder am Saum seines Mantels erkennen. »Fynx!« Hastig sprang sie zu ihm hinüber, doch nur das langegezogene, spitze Ohr des Hexers bewegte sich. Gerade, als Trina ihre Hand nach ihm ausstrecken wollte, kroch die erste Flamme aus dem verbrennenden Stoff.
»Fynx, verdammt nochmal«, schrie sie ihn an, doch wieder reagierte der Mann nicht. Im Blickwinkel sah Trina den Kanal, also nahm die zwei Schritte Anlauf und rammte ihm mit aller Kraft die Schulter von unten in den Körper. Die Wucht warf den Hexer ins Wasser am sanft abfallenden Ufer. Fynx schlug um sich und prustete, er saß auf dem Hosenboden in seichtem Wasser.
Der Brand war gelöscht, aber er fixierte sie mit einem Blick, der ihr das Blut in den Adern gefrieren lassen wollte. Mit Todesverachtung kletterte er an Land, wischte sich durchs Gesicht und konnte den unterdrückten Zorn nicht aus seiner Stimme halten: »Sag mal, ist deine Todessehnsucht wirklich so groß?«
Noch bevor Trina erklären konnte, knurrte Fynx weiter. 
»Dass du meine Konzentration störst, kann dich das Leben kosten, und für den Sturz ins Wasser allein sollte ich dir die Haut-« Trina unterbrach ihn: »Du hast gebrannt.« 
Das Echo seiner Stimme verhallte. »Sehe ich aus, als würde ich einfach so verbrennen? Bei den Göttern, ich bin ein Hexer kein gewöhnlicher Staubgeborener«, sagte er gefasster, aber noch immer zornig. Er begutachtete die Brandlöcher am Ärmel.
»Was hast du vor?«, verlangte Trina zu wissen. Wenn er plante, halb Ashturia anzuzünden, würde sie einschreiten.
»Ich weiß vermutlich, was ich falsch gemacht habe. In Gorrae lässt sich die Magie leichter kontrollieren. Ich wäre nicht verbrannt, denn das Feuer hätte mir nichts anhaben können. Bleib bitte zurück«, setzte er nach und bewegte schon die Hände.
Einen Augenblick später stiegen wallende Dampfschwaden von dem Hexer auf und Genugtuung verzog Fynx´ Lippen zu einem Lächeln. »Besser«, sagte er und bewegte den Kopf hin und her, dass es in seinem Nacken laut knackte. 
»Gib mir deine Hand, dann trockne ich dich, bevor wir nach deinem Drachen und meinem Lehrling suchen.«
»Fecyre ist ein Drachenmädchen«, gab Trina zurück und verschränkte vorsichtshalber die Arme. Sie wusste nicht, ob sie der Zauberei trauen konnte, die den Hexer beim ersten Versuch um ein Haar verbrannt hätte. Was, wenn er nur Glück gehabt hatte und er sie abfackelte?
Trina überlegte. Die Höhlen, in denen sie hoffte, Fecyre zu finden, waren einen strammen Fußmarsch entfernt. Klatschnasse Stiefel würden ihr Blasen reiben. Und die trockenen Haare des Hexers waren sehr verlockend. Einem Wink der Götter gleich preschte eine Windböe in ihre Kleidung und ließ sie erschaudern.
»Wenn du mich verbrennst, dann schwöre ich…«, drohte sie mit einem halbherzigen Lachen. Doch der Hexer schüttelte ernst den Kopf. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
Mit leichtem Widerwillen ergriff sie die schmale Hand des Mannes und beobachtete genau, was er tat. Fynx schloss die Augen und begann zu murmeln. Sofort bekam Trina eine unangenehme Gänsehaut und ihr Körper fing an, zu jucken. Ihr blieb die Luft weg und gerade als sie japsend nach Atem rang, stieb sämtliche Feuchtigkeit aus ihrer Kleidung und blieb wie Nebel in der Luft stehen. Das Jucken kroch auf ihren Kopf und Trina wand sich, aber es war nach einem Moment vorbei.
Der Hexer ließ ihre Hand los und betrachtete sie, als hole er ein besonders gut gelungenes Schwert aus der Esse. Trina wuschelte über die Kopfhaut, ihre Haare waren trocken.
»Danke«, sagte sie und neigte den Kopf, wie man ihr es beigebracht hatte.
»Gern geschehen«, erwiderte Fynx und deutete an ihr vorbei. »In diese Richtung.«

Als das Licht der Fackeln auf etwas Schwarzes an der Wand der Höhle fiel, stolperte Trinas Herzschlag. Warum lag Fecyre nur da, statt zu antworten? 
Angst schnürte ihre Kehle zu. »Fecyre?«, krächzte sie. Fynx stolperte nur zwei Schritte hinter ihr durch das Geröll am Boden, seine Stimme war klar und voller Autorität: »Zane! Bist du das?«
Trina konnte träge Bewegungen erkennen, oder waren das die Schatten der Fackel, die ihr einen Streich spielten? Sie eilte zwischen den Steinen durch die dunkle Höhle, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass auch der Hexer Licht brauchte.
»Fecyre?«  Die schwarzen Schuppen waren kalt. Panik überwältigte Trina. »Fecyre!«, schrie sie wie von Sinnen, krallte ihre Fingernägel in die ledrige Haut und zerrte daran.
Der Hexer trat neben sie und meinte mit nüchterner Stimme: »Sie machen auf mich beide einen vergleichsweise lebendigen Eindruck.« 
»Dann hilf mir doch mal«, keifte sie Fynx an und hielt ihm ungeduldig die Fackel entgegen.
Mit beiden Händen zog sie an der Schwinge, die ihre Freundin schützend über sich gezogen hatte. 
Da, zwischen den Beinen und Flügel eingeklemmt lag das knochige Kind. Als Trina sich nach ihm streckte, fühlte sie erleichtert Wärme. Der Junge verzog das Gesicht, noch bevor sie ihn berührte, also griff Trina an Fecyres Wange. Auch der Drache war warm. »Fecyre«, flüsterte sie besorgt und strich über den großen Kopf. So wie der Bengel sich rührte, kam auch in den Körper des Drachenmädchens langsam Leben. Zuerst bewegten sich die Ohren, dann rümpfte Fecyre die Nase. 
»Zane, geht es dir gut?«, wollte Fynx wissen und beugte sich zu dem Kind hinunter. Der Junge öffnete die Augen schläfrig, gähnte und streckte sich ausgiebig. Auch Fecyre öffnete die Augen und bewegte sich aus der zusammengerollten Position.
Sie fixierte den Mann und sagte mit einem rauchigen Unterton: »Du musst der Hexenmeister sein.« Fynx riss den Kopf herum und starrte den Drachen an. »Zane hat von dir erzählt«, sagte Fecyre und gähnte. Erschüttert betrachtete der Hexer die unzähligen weißen Zähne im Maul und trat einen Schritt zurück.
Trina konnte ihre Erleichterung nicht verbergen. »Geht es dir gut? Warum hast du … Was hast du bloß gemacht?«, fragte sie und beachtete die Tränen nicht, die ihre Wangen hinunterkullerten. Der Hexer half seinem Lehrling auf die Beine, Fecyre erhob sich und streckte sich wie eine riesige Katze. Trina schlang ihre Arme um den Hals des Drachen und murmelte mit tränenerstickter Stimme: »Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Sogar in einer anderen Welt war ich auf der Suche nach dir. Kannst du dir das vorstellen?« Fecyre gähnte erneut und sah den beiden Hexern nach, die die Höhle verließen.
»Ja, das kann ich. Der vorlaute Bengel hat es mir erzählt, nachdem er sich erholt hatte.« Den Kopf rieb sie versöhnlich an Trina. »Komm, der Junge bekommt eine Standpauke gehalten.«
Rasch eilten sie aus der Höhle.
Der knochige Junge, Zane, saß auf einem Stein. Fynx hatte sich mit verschränkten Armen vor ihm aufgebaut. Abwartend trommelte er mit den Fingern auf seinem Oberarm. »Und was dann?«, fragte er angespannt. Der Junge ließ den Kopf hängen und murmelte leise. »Sieh mich an«, forderte Fynx auf. Zane seufzte und hob den Kopf. Doch statt seinen Meister sah er Fecyre dankbar an.
»Und plötzlich taumelte ich und stürzte. Ich habe wohl die Besinnung verloren.« 
»Das kann vorkommen, wenn man sich an verbotener Blutmagie übt«, unterbrach Fynx ihn tadelnd. »Fahr fort. Wie war das mit dem Drachen?«, fragte er und betrachtete Fecyre mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier.
Fecyre holte Luft. »Ich sah ihn in den Sumpf klatschen. Deswegen bin ich zu dem kleinen Kerlchen hin«, erzählte sie und zwinkerte Zane zu, als er sie böse anschaute. »Er war bewusstlos und blutete an den Händen. Ich wollte ihn heilen, da erwachte er.« Sie verzog das Maul zu einem schiefen Grinsen.
»Ich habe mich zu Tode erschreckt, als dieses Ungetüm das Maul aufriss.« Trina verkniff sich das Grinsen, als der Hexenmeister blass wurde. »Ich wollte fliehen. Vielleicht war der Spruch noch nicht beendet, bevor ich besinnungslos wurde, oder ich habe etwas falsch gemacht.«, fuhr Zane fort.
»Höchstwahrscheinlich beides«, murrte Fynx säuerlich.
»Ja.« Der Junge ließ kurz den Kopf hängen, aber als er aufblickte, leuchtete Schalk in seinen Augen. »Jedenfalls wurden wir beide in diese Höhle geschleudert. Der Drache und ich. Mein Bein war gebrochen, ich habe die Knochen hervorstehen sehen. Und plötzlich fing das Monster an, mit mir zu reden.«
»Monster«, seufzte Fecyre und schmiegte sich an den knochigen Jungen. »Ich kann dich immer noch fressen und niemand könnte mich davon abhalten«, sagte sie trocken und grinste zähnefletschend. Der Hexer trat wieder einen Schritt zurück.
»Jetzt lass aber gut sein, Fecyre«, mahnte Trina. »Vielleicht geht das alles ein bisschen weniger furchteinflößend?« Mit der Hand machte sie eine umfassende Geste. Das Drachenmädchen nickte geknickt und verwandelte sich in den großen, schwarzen Wolfshund.
Die beiden Hexer aus Gorrae starrten mit offenstehendem Mund den Hund an und Trina erklärte lächelnd: »Fecyre kann ihre Gestalt verändern. Sprechen kann sie nur als Drache. Und manchmal bin ich froh darüber.« Lachend raufte sie dem Hund das Fell. »Ich bin froh, dass ihr gesund und wohlauf seid. Ihr beide.« Dann sah sie Zane an. Der Junge hatte schwarze Linien auf den Wangen, die ein wenig an das Mal im Gesicht seines Meisters erinnerten. »Sie hat deine Verletzungen also geheilt. Aber warum hat sie mir nicht geantwortet?« Der Junge sah seinen Meister schuldbewusst an. »Die Blutmagie hat mich sehr erschöpft, und Fecyre wohl auch. Wir schliefen beide sehr schnell ein. Es tut mir sehr leid, dass ich solche Umstände gemacht habe.«
Dass Fecyre ihm nicht böse war, zeigte sie, indem sie den dürren Jungen umstieß und ihm das Gesicht leckte, als er am Boden lag. Mit einem finsteren Blick sah Fynx auf die beiden hinunter, doch dann lächelte er mild und wandte sich Trina zu.
»Ich schließe mich an. Es tut mir leid, dass mein Lehrling solche Umstände bereitet hat.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Allerdings hätte ich sonst wohl nie von Ashturia erfahren. Einem Land, in dem eine besondere Königin mit ihrem Drachen herrscht.« Trina ergriff die Hand des Mannes.
»Ich bin froh, dass nichts weiter Schlimmes passiert ist«, antwortete sie. »Und ich hätte sonst nie die Gelegenheit gehabt, mir euren Hexenturm anzuschauen.«
Fynx nickte ernst. »Es ist Zeit, heimzukehren.« Er zog seinen kleinen Dolch unvermittelt und Trina unterdrückte den Reflex, es ihm gleich zu tun. »Komm schon, Zane. Deine Strafe wartet auf dich. Das Studierzimmer wirst du nach dieser Anstrengung wohl ohne Hexerei entstauben müssen. Und ich bin schon sehr gespannt, was Meisterin Vesna zu deinem Ausflug zu sagen hat.« Schon tropfte das Blut von den Fingerspitzen des Mannes. Zane kam eiligst auf die Füße und trat dicht an seinen Lehrer heran, dann warf er einen Blick auf Fecyre. »Vielleicht sehen wir uns irgendwann mal wieder.« 
Der Hund wedelte mit dem Schwanz und kläffte einmal zustimmend. Fynx verzog unwillig den Mund, sagte aber nichts weiter dazu. Stattdessen wandte er sich an Trina. 
»Eure Hoheit.« Er neigte respektvoll den Kopf.
»Hexenmeister«, erwiderte Trina seine Geste.
Einen Wimpernschlag später waren die beiden verschwunden. 

»Sag mal, was genau hattest du eigentlich vor? Ich nehme an, es war nicht deine Absicht, in einem Tümpel zu landen, dich von einem Drachen finden zu lassen und mir eine übermütige Königin auf den Hals zu hetzen?« 
Fynx lehnte mit verschränkten Armen am Kartentisch des Studierzimmers und sah Zane dabei zu, wie dieser mit einem Tuch die uralten Buchrücken abtupfte. Der junge Hexer warf ihm einen missmutigen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Ich hab mir versehentlich in den Finger geschnitten und wollte die Wunde mit Hexerei heilen.“ 
»Obwohl ich dir schon tausendfach erklärt habe, dass Hexer genau aus diesen Gründen keine heilerischen Tätigkeiten ausführen sollten? Weil Magie, die auf welche Weise auch immer mit Blut in Berührung kommt, unberechenbar ist?«
»Es tut mir leid«, erwiderte Zane trotzig und klatschte den Lappen gegen das Bücherregal. »Aber du musst schon zugeben, dass es ein sehr interessanter Ausflug war, oder?« 
Ja, Fynx hatte sich schon lange mal wieder danach gesehnt, von einer halbwüchsigen Königin in einen Tümpel geschubst zu werden. Er verzog das Gesicht bei der Erinnerung an diese Demütigung. 
»Du kannst froh sein, dass dich deine orbitale Reise nicht im Schmelzkessel einer Schmiede ausgespuckt hat. Und jetzt putz anständig … Dann überlege ich mir vielleicht noch mal, ob ich Vesna etwas hiervon erzähle.« 
Zane nickte gehorsam und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Sicher wusste der junge Hexer genau, weshalb Fynx in Wahrheit Stillschweigen über diesen kuriosen Vorfall wahren wollte. 
Die alte Hexenmeisterin würde es einfach nur urkomisch finden.

ein Text von Leslie Meilinger und Naomi Huber

2021
Illustration von Fynx und Trina