Bis zum Drachenfelsen war es noch ein guter Tagesmarsch. Hannibal sah zu der kahl aufragenden Bergspitze, schirmte mit einer Hand seine Augen vor der Morgensonne ab und griff mit der anderen in die Manteltasche, um seinen Proviant zu greifen. Herzhaft biss er in den Apfel und wanderte los, die Chemikalien auf seinen Rücken geschultert.
Es wird Zeit, dass jemand eine Brücke über das Schiefertal hinauf zum Berg spannt, dachte Hannibal, während er achtsam einen Fuß vor den anderen setzte. Eigentlich war die Gegend des Landes vorzeigbar ausgebaut, doch war das zerklüftete Tal um den Drachenfelsen herum lange unangetastet geblieben. Immerhin hatte hier noch vor drei Generationen ein Drache gelebt. Der Letzte des ganzen Landes, so hatte es zumindest Hannibals Großmutter erzählt.
Und ausgerechnet in der ehemaligen Höhle dieses Drachen musste der Alchemist Igor sein Labor aufschlagen. Er behauptete, die Energie des einstmaligen Bewohners würde ihm besonders feurige Gedankenblitze bereiten. Hannibal glaubte, dass der Alchemist einfach etwas für die Extravaganz dieses Ortes übrig hatte und verfluchte ihn heimlich für seine Wohnortwahl.
Nicht nur der Berg war schwer zu erklimmen, das Schiefertal selbst barg einige Tücken. Man durfte sich keinesfalls von einem umherfliegenden Papagei ablenken lassen, sonst stürzte man in die todbringenden Felsspalten und konnte nur hoffen, dass man sich beim Fall das Genick brach. Sonst musste man da unten qualvoll verhungern.
Hannibal kannte das alles schon, doch noch nie hatte einer der Aras versucht, ihm sein Essen zu stehlen. Im Augenwinkel sah er einen gelb-roten Blitz herbei schießen, er vernahm einen Triumphschrei und der Vogel hatte seinen halb verspeisten Apfel erbeutet.
Hannibal ruderte verzweifelt mit den Armen und spürte, wie seine Stiefelsohlen über den glatten Schieferstein rutschten. Er stieß einen heiseren Schrei aus und dann fiel er in die Tiefe.
Alle seine Knochen würden brechen, seine Chemikalien würde in die Luft fliegen und er würde niemals nach Hause zurückkehren.
Wumpf!
Der Aufprall presste die Luft aus seinen Lungen, ließ seinen Kopf vibrieren und er biss sich fest auf die Zunge. Aber das war es.
Keine scharfkantigen Felsen durchbohrten seine Haut, keine Knochen zerbarsten und kein Blut umströmte ihn.
Hannibal war auf etwas Weichem gelandet. Obwohl, weich war die falsche Bezeichnung. Er war auf einer rauen Oberfläche gelandet, die jedoch so elastisch war, dass sie seinen metertiefen Sturz abgefangen hatte. Der Junge legte den Kopf in den Nacken und blinzelte benommen gen Himmel, der plötzlich so weit entfernt war, als läge er auf dem Grund eines tiefen Sees.
Einen Moment lang hielt er inne und versuchte zu begreifen, was ihm geschehen war. Dann erst bemühte er sich auf seine Beine. Langsam gewöhnten sich Hannibals Augen an das schummrige Dämmerlicht hier unten, seine Lungen füllten sich mit kalter, mineralischer Luft und er musste die Arme ausstrecken, um auf dem wackeligen Untergrund nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Was war ihm passiert? Wo war er hier gelandet?
Am ganzen Leib zitternd und mit der größten Vorsicht, die er trotzdem aufbringen konnte, löste Hannibal das Bündel auf seinem Rücken und hielt es vor sich, um es auf Schäden zu prüfen. Wenn Meister Igors spezielle Senfölmischung ausgelaufen wäre, konnte er sich auch direkt zum Sterben hinlegen. Doch wie durch ein Wunder wies seine Ausrüstung, außer einigen zerbeulten Gefäße, keinerlei Schäden auf. Der Junge atmete tief durch.
Er lebte noch. Erleichterung wollte sich trotzdem nicht so recht einstellen und er versuchte, etwas von seiner näheren Umgebung zu erkennen. Die Schieferfelsen türmten sich in alle Himmelsrichtungen und er vernahm das leise Tropfen von Wasser. Gut. Verdursten musste er schon mal nicht. Hannibal machte einen bedächtigen Schritt vorwärts und sank bis zu den Knöcheln in dem elastischen Untergrund ein. War es eine alte Plane oder vielleicht Segeltuch?
Er ging in die Knie, um noch einmal aufmerksam seine Fingerkuppen darüber streifen zu lassen. Erschrocken zuckte er zurück. Das fühlte sich an wie … wie die alte Drachenhautschürze, die Meister Igor immer trug. Nur nicht so abgenutzt. Und deutlich wärmer.
Bewegung kam in den Untergrund und Hannibal stieß ein angsterfülltes Stöhnen aus. Das konnte doch nicht wahr sein. Krallen kratzten spitz über die Felsen, ein tiefes Schnauben ertönte und die Temperatur wechselte schlagartig in glutnestähnliche Höhen.
Dann klappte der Drache seine Augen auf und es war, als wären zwei riesige blutrote Sonnen in einer sonst schwarzen Welt erschienen.
Hannibal ging in die Knie und reckte seine Hände nach oben.
„Friss mich nicht, oh werter Drache! Ich versichere dir dass kein Mensch schmeckt, der mit Senföl, Schwefel und anderen alchemistischen Substanzen garniert ist!“
Der Drache schnaubte und ein feuchtwarmer, entsetzlich stinkender Atemzug ließ dem Jungen die Haare zu Berge stehen. Nach einer Weile wagte er es wieder hinzusehen und sah in die Augen des Drachen. Seltsam milchig spiegelte er sich in den roten Iriden und wusste nicht was er tun sollte.
Das Monster machte keine Anstalten ihn zu verspeisen, doch Hannibal war alles andere als beruhigt.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an das fahle Licht und ihm offenbarte sich ein so gigantischer Drache, dass er schwindelig zu Boden sank. Oder besser gesagt, er sank auf dem ausgebreiteten Drachenflügel nieder, auf dem er gelandet war.
Dieses Geschöpf musste mehrere hundert Jahre alt sein und seit Ewigkeiten hier unten liegen. Wie konnte ein Wesen von dieser Größe unbemerkt bleiben?
Der Drache blinzelte. Erst mit dem linken, dann mit dem rechten Auge.
Er schien sich nicht für Hannibal zu interessieren und machte Anstalten seinen Kopf in Größe einer Kathedrale wieder auf seine Vorderläufe zu legen.
„Hast du nicht vor mich zu fressen?“ Hannibal wollte sich da lieber ganz sicher sein.
Wieder schnaubte der Drache langgezogen.
„Nein“, antwortete er dann mit einer rauchigen Stimme, die lange nicht mehr benutzt worden war.
„Und weshalb?“
„Du bist so winzig, dass ich dich nicht sehen kann. Du würdest meinen Hunger nicht stillen.“
Dem Jungen lief es bei diesen Worten kalt den Rücken hinab und doch fand er es recht großzügig von dem Drachen, ihn zu verschonen. Wenn er es auch nur aus Bequemlichkeit tat.
Hannibal zögerte. Er wollte sein Glück nicht weiter herausfordern, andererseits hatte er kaum eine Chance, dieser Situation zu entkommen.
„Gibt es einen Weg nach oben? … Außer dem offensichtlichen, den ich ohne Flügel nicht bestreiten kann?“
„Nein.“
Hannibal ließ hilflos die Arme sinken, während der Drache sich endgültig von ihm abwandte. Das konnte es nicht gewesen sein. Doch dem Drachen war es gleichgültig, dass ein Menschenjunge sein Versteck gefunden hatte und legte den Kopf auf seine Vorderkrallen, die auf einem großen Felsen ruhten.
„Ich verstehe nicht, was du hier unten machst. Warum bist du seit Jahren nicht mehr oben gewesen?“
Er bekam erneut ein Schnauben zur Antwort. Der Junge wünschte, er würde das unterlassen. Jedes Mal umströmte ihn die Hitze und der Gestank beißender als zuvor. Bald wäre er sicher daran erstickt.
„Ich bin gestürzt“, antwortete der Drache, als Hannibal längst nicht mehr damit gerechnet hatte.
„Wann?“, fragte der Junge verblüfft.
„Vor fast einem Jahrhundert.“
„Und … weshalb bist du nicht wieder hinausgeflogen?“, fragte er langsam und überlegte, ob er etwas Offensichtliches übersehen hatte. Was hielt eine Kreatur dieser Größe und Feuerkraft von irgendetwas ab?
„Ich bin blind“, antwortete der Drache und seine Stimme hatte sich verändert. Kurz befürchtete Hannibal, er würde wütend werden. Aber dann glaubte er zu verstehen, dass der Drache wehmütig klang. Etwas an diesem riesigen Wesen berührte den Jungen und er setzte sich behutsam in den Schneidersitz.
„Ich habe mich gar nicht richtig vorgestellt, oder? Ich bin Hannibal von Südsee und gehe bei einem Alchemisten in die Lehre. Hast du einen Namen?“
Minutenlang musste er auf eine Antwort warten. Vielleicht war der Drache nicht nur blind, sondern hatte auch eine Hörschwäche. Bei seinem Alter wäre das kaum verwunderlich.
„Man nennt mich Schlange.“
„Ah“, machte Hannibal und fragte sich wem dieser unpassende Name eingefallen war. „Ich würde gern deine Geschichte hören, Schlange.“
Der Drache kam erneut in Bewegung und wieder flammten die roten Augen auf. Hannibal konnte dieses Mal deutlicher den milchigen Schleier erkennen und doch schrumpfte er unter dem suchenden Blick des Drachen. Er konnte nun den massigen Hals seines Gegenübers, die kreisrunden Nasenlöcher und die wild geschuppte, schwarzrote Haut erkennen. Je länger er den Drachen ansah, umso deutlicher wurde ihm sein Alter. Seine Haut war mit Narben und Kratern überzogen und die Hörner auf seiner Stirn waren deutlich verschlissen und kantig.
„Du willst die Geschichte der Schlange hören?“
„… Ja.“
„Ich war auf dem Weg zu den Vulkanen im Süden, als mich ein alchemischer Angriff traf und ich in dieses Tal stürzte.“
Hannibal lief es kalt den Rücken hinab, obwohl dem Drachen bei jedem Wort glimmende Rauchwolken entwichen und er mehr und mehr Hitze ausstrahlte.
Ein Alchemist hatte den Drachen vom Himmel geholt? War er deshalb erblindet?
Und obwohl Hannibal von seiner alchemistischen Lehre gesprochen hatte, sah die geschuppte Kreatur noch immer nicht so aus, als trachtete sie ihm nach dem Leben.
Dadurch fühlte sich der Junge fast noch schlechter, als wenn der Drache ihn für sein Schicksal verantwortlich gemacht hätte.
„Aber … warum bist du nicht wieder hinaufgeflogen. Später. Irgendwann. Du hättest nicht mal fliegen müssen. Du könntest mit Leichtigkeit aus diesem Loch herausklettern.“
Die Schlange schwieg und senkte den Kopf. Es dauerte einen Moment, bis Hannibal verstand, was der Drache ihm damit bedeutete. Die schuppenbesezte, kantige Schnauze berührte für einen kurzen Moment den Felsen, auf dem die Vorderläufe ruhten.
Doch es war kein Felsen. Es war ein grau geflecktes Drachenei. Dem Jungen verschlug es die Sprache und langsam begann er zu verstehen.
„Deshalb warst du auf dem Weg nach Süden?“
„Ja.“
Dracheneier brauchten Wärme. Immense Wärme.
Und selbst wenn Schlange, die offenbar ein Weibchen war, aus diesem Schiefertal entkommen wäre, hätte sie ohne ihr Augenlicht doch nie den Weg um den halben Erdball bewältigen können. Dazu mit einem Ei beladen, so schwer wie ein Elefant.
„Wenn du dein Augenlicht noch hättest, würdest du es zu den Vulkanen schaffen, damit das Ei ausgebrütet werden kann?“
„Ja.“
„Dann werde ich dir helfen.“ Hannibal sprach, bevor er sich überhaupt Gedanken gemacht hatte, wie er das anstellen wollte. Er war plötzlich wütend. Wütend auf das, was diesem Drachen passiert war.
Schlange hatte sein Leben gerettet und ihn nicht verspeist. Und sie saß seit hundert Jahren hier unten, weil sie ihr Ei nicht verlassen, es aber auch nicht fortbringen konnte.
„Du kannst mir nicht helfen. Mein Augenlicht ist fort.“
„Ein Alchemist hat dir das angetan. Das ist nicht gerecht und ich werde dafür sorgen, dass ein Alchemist es wieder gutmachen kann. Meister Igor ist ein komischer Kauz, aber er hat das Herz am rechten Fleck und er würde keinem Drachen je etwas zuleide tun.“
Schlange schwieg. Sehr lange. So lange, dass Hannibal unruhig wurde.
Sie war seine einzige Chance, hier herauszukommen. Nur wenn sie sich entschloss, ihm zu helfen, konnte er sich aufmachen um ihr zu helfen.
„Du musst mich mit deinem Flügel hochheben“, sagte er vorsichtig, als er sich sicher war, dass sie nicht antworten würde. „Dann werde ich einen oder zwei Tage unterwegs sein. Es kann auch länger dauern, wenn Meister Igor eine Lösung für dich finden muss. Aber ich werde zurückkommen, das verspreche ich.“
Wieder hatte er das Gefühl, als versuchte der Drache ihn mit seinen blinden Augen zu sehen. Ihre Schnauze war so nah an ihm, dass seine Haut vor Hitze schmerzte.
„Abgemacht.“
Noch bevor Hannibal sonst etwas sagen konnte, bewegte Schlange ihren Flügel aufwärts und er landete auf seinem Hinterteil. Der Himmel kam näher und näher, die Luft wurde wärmer und zeitgleich frischer. Er hätte gerne mehr zu ihr gesagt, um ihr zu beweisen, dass es ihm ernst war, doch da wurde der Winkel des Drachenflügels steiler und Hannibal konnte sich gerade noch daran festklammern. Seine Füße verloren jeden Halt und einige Momente baumelte er hilflos über der Schlucht, bis Schlange ihren Flügel ein wenig senkte und den Jungen auf einem größeren Vorsprung absetzte. Einen kurzen Moment lang konnte er die mitgenommen aussehende Spitze des Flügels im Tageslicht sehen. Obwohl er von der Helligkeit geblendet war, erkannte er die zahllosen winzigen Löcher in der staubigen, abgewetzten Drachenhaut, bevor Schlange den Flügel wieder in der Höhle verschwinden ließ.
Das er noch immer am ganzen Körper zitterte, merkte Hannibal erst, als er versuchte vorwärtszukommen. Es hatte keinen Zweck. Er musste eine Stunde Pause einlegen, sonst wäre er direkt in die nächste Schieferspalte gestürzt.
Aber als er dann seinen Weg fortsetzte, war er entschlossen. Er machte keine weitere Pause, legte sich nicht zum Schlafen hin, als es Nacht wurde und er den Aufstieg auf den Berg begann. Sein Herz klopfte so schnell, dass er sicher nicht hätte schlafen können.
Trotzdem merkte er den beschwerlichen Weg in jedem einzelnen Knochen, als er vor der eisernen Tür des Alchemisten stand. Mit zitternden Fingern tastete Hannibal nach dem Schlüssel und versuchte sich in der Dunkelheit Zutritt zu verschaffen.
Meister Igors Labor war ein seltsamer Ort. Die alte Drachenhöhle hatte derartige Ausmaße, dass man eine ganze Stadt darin hätte unterbringen können. Und doch hatte der Alchemist es ganz allein geschafft, nahezu jeden Winkel der Steinwände mit Formeln, Skizzen und Mondphasen zu bezeichnen. Von der Decke hingen Glasscheiben in allen erdenklichen Größen und Farben, sowie getrocknete Kräuter und ein verformter Kerzenleuchter. In der Mitte brannten verschieden Feuer unter Kesseln und Reagenzgläsern und ein rhythmisches Zischen erfüllte die ganze Höhle.
„Junge, ich habe schon befürchtet, ein Geist hätte dich geholt oder du wärst ins Schiefertal gestürzt.“
„Das bin ich, Meister. Ich bin in eine Felsspalte gefallen.“
Der irrwitzig hoch gewachsene Mensch drehte sich zu seinem Lehrling um und musterte ihn kritisch durch zwei dicke Brillengläser.
„Willst du mich verulken, Junge?“
„Ihr glaubt nicht, was mir dort unten begegnet ist!“
Hannibal streifte sein Gepäck ab und streckte seinen schmerzenden Rücken durch.
„Hast du das Senföl?“
„Ja, natürlich.“
„Und den Zink und die anderen Mineralien?“
„Ja, alles hat den Sturz unbeschadet überstanden. Ich übrigens auch“, bemerkte Hannibal und war regelrecht enttäuscht über das mangelnde Interesse seines Lehrmeisters. Der Alchemist gluckste und hängte eine Kanne Wasser über das Feuer.
„Es klingt fast so, als hättest du mir eine unglaubliche Geschichte zu erzählen. Lass mich nur erst den Tee aufsetzen.“
Ungeduldig wippte der Junge auf seinen Ballen auf und ab, während er wartete, bis Igor Tee gemacht und alle neuen Materialien sorgfältig verstaut hatte. Dann bekam er eine dampfende Tasse Hagebuttentee gereicht und mit einem Blick die Erlaubnis, endlich zu erzählen.
Hannibal kam es so vor, als würde er von einem jahrelangen Abenteuer berichten, dabei war er nicht sehr lange bei dem Drachen gewesen.
Doch Schlange hatte ihn nachhaltig bewegt. Ihr ganzes Dasein und die Tatsache, wie nah er ihr immer schon gewesen war, auf seinen Streifzügen durch das Schiefertal.
Meister Igor lauschte stumm, nippte an seinem Tee und starrte durch seine dicken Brillengläser vor sich hin.
„Ein blinder Drache, sagst du?“
„Ja, ein blinder Drache mit einem Ei und einer Aufgabe“, betonte Hannibal.
„Nun ja … Das ist eine abenteuerliche Geschichte mein Freund.“
„Ihr glaubt mir nicht?“
„Doch, selbstverständlich. Die Leute nennen mich einen Spinner. Wenn ich dir nicht glauben sollte, wer dann?“
Hannibal wusste nicht was er darauf antworten sollte und sah seinen Meister hilflos an.
„Können wir ihr helfen?“
Er hatte ihr sein Wort gegeben, ohne sich sicher gewesen zu sein. Igor ließ sich mit seiner nächsten Antwort so quälend viel Zeit, dass er ihn an den Drachen selbst erinnerte.
Der Alchemist war im ganzen Land bekannt für seine Fähigkeit, aus Glas Sehhilfen anzufertigen, mit einer einmaligen Mischung aus Handwerk, Magie und Alchemie. Doch konnte er einem Erblindeten sein Augenlicht wiedergeben?
Er seufzte, nahm seine Brille ab und rieb sich über die müden Augen. Dann sah er Hannibal an und lächelte mild.
„Es wird eine Herausforderung. Aber ich denke, wir können deiner Drachendame mit ihren Augen helfen.“
Auf dem Rückweg zu Schlange, drei Tage später, wäre Hannibal um ein Haar in eine andere Felsspalte gestürzt. Seine Gedanken waren unkonzentriert, er schleppte schweres Gepäck und er war übermüdet. Er wollte zurück zu dem Drachen. Ihr Schicksal brannte in seinem Herzen und als er den Drachenfelsen verlies wusste er genau, dass er kein Alchemist werden würde. Er würde ihr eines Tages in den Süden folgen, wo die letzten Drachen lebten und dafür sorgen, dass sie dort in Sicherheit waren.
„Schlange?“
Hannibal war sich sicher, dass er die richtige Felsspalte gefunden hatte, doch er wollte lieber nichts riskieren. Am Ende hatte sie ihren Flügel nicht ausgespannt und er starb beim Absturz.
Er wartete ungeduldig, doch dann konnte er in der schwarzen Tiefe ein Bewegung ausmachen und ein alter, von Staub bedeckter Flügelteil kam in Sicht. Sie hob ihn nicht bis nach oben an die Kante, aber hoch genug, dass er der Junge furchtlos hinaufspringen konnte.
Diesmal trug er auch kein explosionsgefährliches Material bei sich.
Hannibal hatte sich vorsorglicherweise einen längeren, feuerfesten Mantel von Meister Igor geliehen, denn er hatte festgestellt, dass die feinen Haare auf seinen Armen vom Atem des Drachen versengt waren. Und seine Rettungsaktion sollte nicht damit enden, dass er doch noch versehentlich in Flammen aufging.
Schlange senkte ihren Flügel langsam in die Tiefe und erst jetzt, wo er die Strecke nicht innerhalb einer Sekunde erlebte, konnte der Junge wirklich wahrnehmen, wie tief das Geschöpf unter der Erde saß.
„Hallo, Schlange“, begrüßte Hannibal den Drachen und der schnaubte zur Antwort.
„Es war wirklich nicht einfach dieses Gerät anzufertigen und das halbe Inventar von Meister Igor ist bei seinen Versuchen zu Bruch gegangen … aber er glaubt eine Lösung gefunden zu haben. Erlaubst du mir auf deine Schnauze zu klettern? Du müsstest die Augen schließen und ich versuche dir diese Sehsteine umzubinden.“
Das nächste Schnauben des Drachen lies lange auf sich warten, aber dann ertönte es.
Schlange sagte: „Einverstanden.“
Langsam näherte sie ihre Schnauze dem Jungen, der auf ihrem Flügel stand und ein metallisches Konstrukt aus Ketten und zwei großen, runden Fassungen in den Armen hielt, das beinah so groß war, wie er selbst.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Hannibal die beiden Sehsteine vor den vernarbten Augenrändern des Drachen platziert hatte. Die Länge des Verbindungsstückes, das über die flache Schnauze lief, musste er vier Mal nachjustieren und letztendlich musste er den gesamten Kopf um klettern, um die Drachenbrille hinter den runden Ohren an den Hörnern zu befestigen.
Dann war der Moment der Wahrheit gekommen.
„Ich glaube es sitzt. Du kannst die Augen aufmachen.“
Die roten Sonnen erschienen in der Dunkelheit, so nah und groß, dass Hannibal von Schwindel erfasst wurde. Augenblicklich kam Bewegung in den Drachen. Ein Ruck durchfuhr seinen Hals und die Hinterläufe kratzen wild über den Schiefer.
Schlange sah ihn an und einen Moment lang stand sein Herz still.
„Hat es funktioniert?“, fragte Hannibal heiser, denn nach dem ersten schreckhaften Zucken war der Drache in eine Starre gefallen.
„Ja. Jetzt kann ich dich sehen.“
Würde sie ihn jetzt fressen?
Der Gedanke war Hannibal schon auf dem Rückweg gekommen. Doch aus irgendwelchen Gründen war diese Angst im Hintergrund geblieben, als wüsste er es schon besser.
Langsam richtete sich Schlange auf. Zum ersten Mal kam sie aus ihrer zusammengekauerten, liegenden Position und Hannibal legte sich bäuchlings auf ihre Schnauze, krallte sich mit aller Kraft an sie. Schiefer bröckelte in Bächen zu ihren Seiten hinab. Der Stein platzte regelrecht auseinander, wenn der Drache ihn streifte. Schlange stand auf den Hinterläufen, so hoch, dass sie nur noch wenige Meter von der Erdoberfläche entfernt waren. Ihr Ei hatte sie mit den Vorderkrallen an sich gepresst. Hannibal schloss die Augen, als das peitschende Geräusch der Drachenflügel ertönte.
Schlange ächzte und bemühte sich eine ganze Weile lange, bevor sie wirklich abhob.
Staub, Hitze und Schieferregen umgaben sie, als sie die Felsspalte verließen und empor flogen.
Der Drache neigte seinen Kopf nach vorn, als sie an der Felskante vorbeiflogen und Hannibal wusste, dass es seine einzige Chance sein würde, abzuspringen.
Er ließ sich fallen und landete schmerzhaft auf seinem Rücken. Dann musste er sich zusammenkugeln und schützend die Hände vor sein Gesicht pressen, so energievoll und hitzig stieg der Drache über ihm in die Lüfte. Schlange schrie.
Ihr Schrei riss beinah seinen Kopf entzwei und beinhaltete all das, was sie nie gesagt hatte.
Ihren Schmerz, ihre Wut, ihre Hoffnung.
„Wird sie es wirklich schaffen, zu den südlichen Vulkanen?“
„Wenn die Drachenbrille funktionier, sicher. Aber ihre eigentliche Mission wird trotzdem nicht gelingen.“
„Wie meint ihr das, Meister?“
„Das Drachenei. Es ist robust, sicher. Aber es kann nicht hundert Jahre ohne vulkanische Hitze überleben. Deine Schlange hat ihr Kind längst verloren.“
„Und … weiß sie das?“
„Sicher weiß sie das.“
Hannibal biss sich so fest auf die Lippe, dass er Blut schmeckte und doch rannen ihm die Tränen unaufhörlich über die staubigen Wangen, als er Schlange nachsah, die mit ihrem Ei gen Süden flog.
© Leslie Meilinger 2019